"Etc." von Luis Rafael Sánchez
Die Geschichte, die ich jetzt erzähle, ist eigentlich gar keine, weil sie
erst gestern an der Ecke der Haltestelle Siebzehn passiert ist. Obwohl, die Siebzehn
hat ja vier Ecken. Siebzehn/Ecke Franklin muß es heißen. Bei Franklin,
wo sie dienstags immer die Wühltische rausstellen. Zufällig war gestern
Dienstag. Der Zufall ist nicht, daß gestern Dienstag war, sondern daß
heute Mittwoch ist. Und diese Geschichte ist heute, am Mittwoch, einen Tag alt.
Und weil sie einen Tag alt ist, ist sie zu neu.
Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Obwohl, das stimmt nicht ganz. Jeden Morgen würde ja heißen von Montag bis Sonntag, dabei muß es heißen von Montag bis Samstag. Sonntags tauch ich nicht an der Siebzehn auf. Sonntags bleib ich so lang im Bett, bis ich das Faulenzen leid bin. Dann hör ich mir an, was es so zu hören gibt: den baptistischen Radiogottesdienst mit seinen lautstarken Tamburins und die baptistische Verteufelung der männlichen Triebe. Zu der Predigt, die mir einen finsteren Tod prophezeit, kommt ihre Predigt, die mir ein finsteres Leben prophezeit. Denn meine Frau läßt sonntags ihren Flüchen freien Lauf, indem sie sich meiner als Ablageplatz bedient. Meine Frau rastet ständig aus, liebt es herumzukeifen und ist eine erklärte Feindin guten Benehmens. Meine Frau hat keine Hemmungen, mich mit Dummschwätzer, Großmaul, Rumtreiber und anderen Liebenswürdigkeiten zu betiteln, die ich hier besser nicht wiederhole. Auch wenn sie mich noch so runtermacht, den Sonntag schenk ich ihr, damit sie nach Lust und Laune schalten und walten kann. Also jedenfalls bin ich nur von Montag bis Samstag an der Siebzehn. So weit, so gut. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Ein harter Brocken, die letzten Monate. Das kann ich Ihnen schriftlich geben: 18. Februar plus 20. April, das ergibt einen Mann, den sie an den Eiern aufgehängt haben. Die Fabrik hat am 18. dichtgemacht. Am 19. saßen wir auf der Straße, 200 an der Zahl. Sie können sich nicht vorstellen, wieviele Mäuler mit 200 Wochenlöhnen gestopft werden müssen. Was mich betrifft, kann ich Ihnen meins und das meiner Frau nennen. Und dann noch das einer Tante meiner Frau. Schon ganz tattrig die Alte, eine von der Sorte böse Tante. Und dann noch das von einem Cousin meiner Frau. Er, Alkoholiker, immer spitz und ein richtiger Schnorrer. Nein, sie leben nicht bei uns, aber sie leben von uns. Weiter geht´s. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin, und genoß es, mir anzuschauen, was es zu schauen gab: die Hektik, mit der die Leute in der kurzen Spanne, die die Ampel zuläßt, über die Straßen gingen, oder die Hast, mit der die selben Leute auf den Bürgersteigen auseinanderströmen. Halten Sie folgendes fest: auf den beiden Bürgersteigen der Roberto H. Todd Richtung Condado und Alto del Cabro, ist am wenigsten los; dagegen ist der der Roberto H. Todd runter zur Haltestelle Achtzehn und der der zur Ponce de Leon/Ecke Telesforo führt, ständig überlaufen von Marktfrauen, Sekretärinnen in der Coffee Break, Damen beim Stadtbummel, Hausfrauen und Studentinnen von der Labra und der Central. Der reinste Bienenschwarm. Jetzt ist es an der Zeit, auf meine Vorliebe für Menschenmengen und Getümmel hinzuweisen. Wo es Gedränge gibt, fühl ich mich wie ein Fisch im Wasser. Die Siebzehn, Versammlungen, das Hiram Bithorn, Beerdigungen, Prozessionen, alles voller Leute!, der Flughafen, der Busbahnhof von Río Piedras, die Einkaufszentren. Damit Sie sich ein Bild von meiner Schwäche machen können, will ich Ihnen sagen, daß ich manchmal abends irgendwo ankomme, wo ich gar nicht hin wollte, wenn ich nur eingepfercht im Bus herumfahren kann. Die Strecke nach Loíza, die Strecke nach Villa Palmeras, die Strecke nach Puerto Nuevo. Wenn doch der Sonntag auch Montag wäre! Es macht mich an, dieses Gedränge. Ich werd richtig high davon, verdammt noch mal. Ich sag mir immer, das Jüngste Gericht kann nicht so furchtbar sein, wenn es stimmt, daß wir Sünder alle ganz eng beieinander stehen werden. Aber alles hat seinen Haken. Was man da für unangenehme Momente erlebt, in was für brenzlige Situationen man durch diese Menschenliebe kommt. Die ganzen boshaften Leute, die sich die schweinische Idee in den Kopf gesetzt haben, daß man nur aufs Betatschen aus ist. Verzeihen Sie die ordinäre Ausdrucksweise. Die ganzen griesgrämigen Leute, die die Nase rümpfen, den Hintern wegdrehen, einziehen, um ihn angeblich nicht dem auszusetzen, was man grabschen nennt. So hat mich übrigens neulich abends ein reicher Fatzke angemacht, ich wäre angeblich frech und vorsätzlich einer Dame auf den Leib gerückt, die seine Frau war. Ich schwöre, daß der Gauner gelogen hat, aber ich bin lieber ausgestiegen, anstatt ihm mit ein paar Ohrfeigen die Optik zu korregieren. Weiter im Text. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin, und hab mir ganz beiläufig angeschaut, was es so zu sehen gab, und das waren lauter tanzende Hintern auf dem Weg zu den Wühltischen, geblümte Hintern, die zwischen den Passanten herumflatterten, hemmungslos, drall und ungezähmt. Dabei möchte ich klarstellen, daß meine Augen nicht darauf aus waren, Hintern zu entdecken. Ich bin von Natur aus anständig, so anständig, daß ich noch nicht mal hinschaue, wenn meine Frau nackt ist, höchstens durch den Türspalt. Also, ich wiederhole nochmal, meine Augen tourten nicht hinter den Geblümten her, sondern die drängten sich vor ihnen zusammen. Vielleicht kann man jetzt verstehen, wie mich diese vermaledeite Gegend um die Siebzehn in Bedrängnis bringt. Da lehnt man sich an eine Säule bei Franklin und sagt zu seinen Augen: "Ruhig Blut, die Weiber sind los". Achtung! Damit ich nicht falsch verstanden werde. Das sagt man zu seinen Augen. Der Mund bekommt nicht das geringste mit. Die Schicklichkeit geht über alles. Zurück zum Thema. Die Augen, meine Augen, konnten das kaum durchstehen, so hingerissen waren sie von den Drallen, die nun auf die Schaufenster von Sanrío und Tom Macán zu stolzierten. Als hätten sie plötzlich entdeckt, daß die Hemdchen, BHs und Röcke von Franklin nichts als billiger Plunder seien. Und kaum befanden sich die Drallen in angemessener Entfernung, ging ich hinterher. Niemand merkte etwas von der Verfolgung. Halt: Verfolgung ist das falsche Wort. Das hört sich so nach Treibjagd an, wo es sich doch vielmehr um einen Spaziergang entlang der Avenida Ponce de León handelte, und zwar mit absoluter Diskretion. Diskretion ist eine Qualität, die ich erfunden habe, ob Sie wollen oder nicht. Und Sie können noch eine andere dazunehmen: die Schicklichkeit. Ich bin nicht vulgär. Ich bin auch nicht so respektlos, daß ich Gassenzoten reiße. Ich kratz mich schon als verstecktes Angebot am Gemächt. Ich kratz mich mal, ja. Ich kratz mich genüßlich. Eine kleine Massage ab und zu. Aber immer heimlich, im Schutz meiner Hosentasche. Ich fahre fort. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin. Ich war gerade bei einer Tätigkeit, die ich gerne als verstohlenes Beobachten umherziehender Hintern bezeichne. Ich wartete sehnlichst darauf, daß es irgendwo zu einem Menschenauflauf kommen würde, zu einem Gewirr von Körpern, ein Dutzend Frauen, staunend vor irgendwelchem Plunder, wie er ein Dutzend Frauen normalerweise in Staunen versetzt, was weiß ich, für Schmorgerichte getrimmte Kasserollen, Stoffreste oder rüschenbesetzte Blusen. Um das Kind beim Namen zu nennen, daß sich die Weiber zusammenrotten. Dort könnte sich dann, ganz im Stillen, eine, sagen wir, passive Kommunikation entwickeln, wohlgemerkt, eine passive, und zwar zwischen meinem Begehren und den Ungezähmten, die urplötzlich vor einem prächtigen Schaufenster stehen blieben. Ich schaute sofort auf die Uhr des Banco de San Juan, die nebenbei gesagt, immer auf neun Uhr steht. Sehen Sie, wie taktvoll ich bin. Da schau ich auf eine stehengebliebene Uhr, damit mich keiner, nicht mal irrtümlich, der Schamlosigkeit bezichtigen kann. Die Uhr des Banco de San Juan hat zwei schwarze Zeiger. Die Uhr des Banco de San Juan ist kreisrund. Während sich das rechte Auge in diese blödsinnige Uhr vertiefte, schickte mir das linke über Fernschreiber die Information, die es über dem Augenwinkel empfing. Die Drallen waren unentschlossen. Unentschlossen für weniger als einen Augenblick, denn sie machten sofort wieder kehrt. Ich habe zwei Augen, ein linkes und ein rechtes, die voller Ehrfurcht die Uhr des Banco de San Juan anstierten. Meine Augen waren auf diese blöde Uhr gerichtet, aber der Lufthauch, der hinter mir vorbeistrich, war der von zwei entzückenden, niedlichen Hinterbacken. Nein, ich mußte sie nicht sehen. Sie waren jetzt wieder am Schaufenster bei Franklin. Elektrisiert, als hätte James Bond mich trainiert, ging ich auf einer der anderen Seiten des Schaufensters in Deckung, wo niemand hinkommt, weil eine Säule im Weg steht. Hinter der Säule bezog ich Posten. Das Traurige an dieser Strategie war nur, daß mir die Besitzerin der Hinterbacken ihrer Vorderseite präsentierte. Von vorn nichts Besonderes. Klein, erschreckend gewöhnlich. Ohne Umschweife, das einzig Attraktive an ihr war ihr süßer Hintern. Eine der Verkäuferinnen von Franklin, Hintern hutförmig, steht in meiner Kartei, brachte einen Korb mit allerfeinsten Strumpfhosen, wie sie schrie, zu Schleuderpreisen, wie sie schrie, aus dem Laden. Da tat sich der Himmel vor mir auf! Wenn die Drallen sich dafür interessierten ... vielleicht. Wenn die Drallen und ein Dutzend Damen sich dafür interessierten. Besser konnte der Tag ja nicht anfangen! Dann brach das schallende Gelächter los. Jetzt kommt's. Gestern, am Dienstag, war ich wie jeden Morgen während der letzten Monate an der Ecke bei Franklin, als plötzlich aus heiterer Hölle, ein Gelächter losbrach. Genauer gesagt, aus der Ecke des Schaufensters, das mit meinem Versteck einen Winkel von 90-Grad bildete. Das Gelächter hatte etwas Ansteckendes, blieb haften, man konnte sich seiner ... ja ... seiner nicht entziehen. Die Säule machte es mir unmöglich, die Besitzerinnen des Lachens zu sehen, aber ich stellte sie mir vor, aus den Nähten platzend die eine, ein dünnes Gerippe die andere, beide von überschäumender Vulgarität, beide hinternmäßig uninteressant. Da die Dinge nun mal sind, wie sie sind, muß ich gestehen, daß sogar ich, von Haus aus ernst, schmunzeln mußte, als ich hörte, wie sie diesen offensichtlich herrlichen Witz bejubelten. Sie schnappten nach Luft. Das Lachen ermüdete sie. Sie gaben Japser der Erschöpfung von sich, einer wirklich angenehmen, herbeigesehnten Erschöpfung. Plötzlich sagte eine von beiden, ich schwör, daß es die Dicke war: "Und hör dir noch das an". Und es fing ein langes Geflüster an, zu dem sich meine Ohren einluden. "Ihren Mann haben sie aus der Fabrik geworfen, weil er sich daneben benommen hat. Er posaunt rum, sie hätten die Fabrik geschlossen. Aber von wegen. Rausgeworfen haben sie ihn, sonst nix. Nein, weder Diebstahl noch Unterschlagung. Ständig auf der Pirsch, ohne Jagdschein versteht sich. Kreuz und quer alles angebaggert. Ein ganz Gewiefter! Viel Reden, viel Rumscharwenzeln, aber immer auf der Jagd nach einem Naduweißtschon." Das Gelächter kam wie eine rechte Gerade. "Immer wenn ich in die Siebzehnte komme, paß ich auf meinen Naduweißtschon auf, denn hier hat er sein Revier." Mir blieb bei diesem Wunder die Spucke weg, und ich mußte darüber lachen. "Aber das Stärkste ist ja, daß der schamlose Kerl eine bildhübsche Frau hat, und die treibts mit einem Typ, den sie als ihren Cousin ausgibt." Sie lachten, als ob sie nicht mehr aufhören könnten, sie lachten ohne die Zurückhaltung, die man auf der Straße üben sollte. Sie lachten. Das Lachen ging in Schüttern über, das Schüttern in die Atemnot und die Atemnot in Husten. Sie husteten. Der Husten wurde mit Tränen getränkt. Ich hörte sie, die Nase putzen. Ich dachte an den Mann, der in der Siebzehnten rumhing, während seine Frau ihm Hörner aufsetzte. Ich dachte, was für sorglose Männer es doch gibt. Schauen Sie, und sich dann auch noch so zu blamieren. Seine Schmach so zur Schau zu stellen. Wenn einer schon Schwäche zeigt, dann wenigstens ohne Schwäche, ohne Zirkuszelt, ohne Mikrophone, ohne Tamtam. Das war bestimmt so ein armer Teufel, ein jämmerlicher Taugenichts, ein, ein, ein. So ein Zorn! So eine Wut! So eine Rage! Die Drallen waren weg. Wo sie doch gerade noch ... Die Verkäuferin holte ihren Korb mit den allerfeinsten Strumpfhosen zu Schleuderpreisen wieder rein. Die Drallen, die Hemmungslosen, die Ungezähmten, verflüchtigt zwischen den Leuten, die in der kurzen Spanne, die die Ampel zuläßt, über die Straße gingen. Verloren! Ich ging los in Richtung Ecke Telesforo. Zerstreut schaute ich mir die Rückseiten der Weibsleute an. Und, an und ab, die Gesichter der Männer. Und in den Gesichtern der Männer sah ich den möglichen Protagonisten jener Geschichte, die eigentlich gar keine Geschichte war. Vielleicht würde ich sogar, ohne es zu wollen und ohne darauf aus zu sein, den Kerl entdecken, der unser Geschlecht entehrte. Memme, Idiot, Volltrottel, etc.
Deutsch von Markus Trapp
Die weiteren 23 Erzählungen aus Puerto Rico, deren Übersetzung ebenfalls in "die horen" erschienen sind:
Emilio Díaz Valcárcel: Der Sohn Ana Lydia Vega: Drei Aerobics für die Liebe Juan Antonio Ramos: Da ist eine Fliege in meinem Essen Edgardo Sanabria Santaliz: Dunkle Nacht Marcelino Resto León: Übung über das Absurde Diego Deni: Kurzsichtig Sara D. Irizarry: Die Frau in Grün Tomás López Ramírez: Alte Phantasien im Park Mayra Montero: The Geese and the Ghost Arturo Echevarría: Das chinesische Portrait Edgardo Rodríguez Juliá: Madonna am Strand Ingrid Cruz Bonilla: Jorge Luis López Nieves: Der Telefoniker Luis Raúl Albaladejo: Die vierte Seite des Dreiecks Olga Nolla: Das einzige Fenster Rosario Ferré: Eine Kette aus Hiobstränen Magali García Ramis: Eine Woche mit sieben Tagen Manuel Abreu Adorno: Die Hippies kamen Edgardo Nieves Mieles: Es gibt eine Zuflucht... Félix Córdova Iturregui: Der Zorn meines Bruders Agapito Carmelo Rodríguez Torres: Fuencarral Manuel Ramos Otero: Weißes Blatt Papier in staccato |
Zusammengestellt von Wilfried Böhringer mit Photos von Bernd Böhner